Immaterielles Kulturerbe in Deutschland
Nirgendwo und überall: Ideen als Erbe der Menschheit
Immaterielles Kulturerbe in Deutschland. Überblick
Immaterielles Kulturerbe in Deutschland ist auf zwei von drei UNESCO-Listen vertreten (Stand 2022):
- Die repräsentative Liste des immateriellen Kulturerbes zählt sechs Kulturformen.
- Das Register guter Praxisbeispiele umfasst eine Kulturform.
- Auf der Roten Liste („Liste des dringend erhaltungsbedürftigen immateriellen Kulturerbes“) waren und sind keine deutschen Kulturformen eingetragen.
Neben diesen internationalen UNESCO-Listen gibt es für Deutschland noch das nationale „Bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes“. Dieses Verzeichnis besteht aus zwei Listen:
- Das immaterielle Kulturerbe von lokaler, regionaler oder bundesweiter Bedeutung umfasst über 100 Kulturformen.
- Das Register guter Praxisbeispiele in Deutschland zählt 13 Kulturformen.
- Eine Rote Liste des bedrohten deutschen Kulturerbes gibt es bislang nicht.
Immaterielles Kulturerbe – was ist das?
Seit 2008 wird das materielle Weltkulturerbe (z. B. Wartburg, Limes oder Kölner Dom) ergänzt durch das immaterielle Kulturerbe in Deutschland, z. B. die Genossenschaftsidee.
- Eine Idee ist immateriell, d. h. man kann sie weder sehen noch anfassen. Aber man kann diese Idee ausdrücken, z. B. durch Sprache („Gründet eine Wohnungsbaugenossenschaft!“), Dokumente (Schreiben von Verträgen, Zeichnen von Grundrissen) oder Architektur (Bau von Genossenschaftswohnungen). Immateriell sind nicht nur Ideen, sondern auch Wissen oder Bräuche.
- Manche Ideen oder Kenntnisse sind Kulturerbe, d. h. sie werden im Laufe der Zeit von Generation zu Generation weitergegeben. Z. B. ist das Wissen, wie man mit Falken jagt, mehrere tausend Jahre alt. Ideen können sich räumlich ausbreiten: Was der eine erfunden hat, ahmt der andere nach. Daher findet man eine Idee, z. B. mit Falken zu jagen, an vielen Orten, nicht nur in Deutschland.
Repräsentative Liste des immateriellen Kulturerbes in Deutschland
Das immaterielle Kulturerbe in Deutschland ist bislang mit sechs Einträgen in die Repräsentative Liste vertreten. Es gibt aber viel mehr Ausdrucksformen: Ein und dieselbe Idee kann sich ja zu verschiedenen Zeiten oder an verschiedenen Orten unterschiedlich ausdrücken. Z. B. hat die eine Genossenschaftsidee in Deutschland ihren Ausdruck gefunden in vielen Genossenschaftswohnungen, Genossenschaftszeitungen oder Genossenschaftsbanken.
Genossenschaftsidee
Eine Genossenschaft ist ein Zusammenschluss von Personen, um gemeinsam etwas zu produzieren oder zu (ver)kaufen. Zu Genossenschaften in Deutschland zählen u.a. Wohnungsbaugenossenschaften (Webseite), Einkaufsgenossenschaften wie EDEKA und REWE, die Raiffeisenbanken und Sparda Banken oder die Verlagsgenossenschaft der taz.
Genossenschaften existierten schon im Mittelalter; im 19. Jahrhundert machten Hermann Schulze-Delitsch und Friedrich Raiffeisen die Genossenschaftsidee populär.
- Nr. 01200
- Immaterielles Kulturerbe seit: 2016
- UNESCO-Webseite Genossenschaftsidee: https://ich.unesco.org/en/RL/idea-and-practice-of-organizing-shared-interests-in-cooperatives-01200
Falknerei
Falknerei ist die Jagd mit Greifvögeln; nicht nur mit Falken, sondern auch mit Habicht, Adler oder Uhu. Die Falknerei wird weltweit praktiziert, z. B. in der Mongolei und Saudi-Arabien. Ein bekannter Falkner war Kaiser Friedrich II., der um 1240 ein Buch über die Falkenjagd schrieb. Umstritten ist, ob der Tierschutz gewährleistet ist.
- Nr. 01209
- Immaterielles Kulturerbe seit: 2016
- UNESCO-Webseite Falknerei: https://ich.unesco.org/en/RL/falconry-a-living-human-heritage-01209
Orgelbau und Orgelmusik
Deutschland hat mit rund 50.000 Orgeln die höchste Orgeldichte der Welt. Die ersten Orgeln waren die Wasserorgeln der Römer. Eine besondere Blüte erlebte die Orgelmusik im Barock. Bedeutende Orgelbauer waren Gottfried Frietsche, Arp Schnitger (Norddeutschland) und die Gebrüder Silbermann (Sachsen, Elsass). Zu den bedeutenden Orgelmusikern zählen u.a. Samuel Scheidt (1587–1654), Dieterich Buxtehude (1637–1707) oder Johann Sebastian Bach (1685–1750).
- Nr. 01277
- Immaterielles Kulturerbe seit: 2017
- UNESCO-Webseite: https://ich.unesco.org/en/RL/organ-craftsmanship-and-music-01277
Blaudruck
Blaudruck ist ein Verfahren, um Stoffe mithilfe von sogenannten „Modeln“ blau-weiß zu färben. Ab 1678 breitete sich das Verfahren von Amsterdam über Europa aus. Die älteste Blaudruckwerkstatt Europas existiert in Einbeck (Niedersachsen), in Deutschland gibt es insgesamt noch 12 Betriebe.
- Nr. 01365
- Immaterielles Kulturerbe seit: 2018
- UNESCO-Webseite: https://ich.unesco.org/en/RL/blaudruck-modrotisk-kekfestes-modrotlac-resist-block-printing-and-indigo-dyeing-in-europe-01365
Flößerei
Flößerei ist der Transport von Flößen auf dem Wasser (Flüsse, Kanäle oder stehende Gewässer). Ein Floß besteht aus mehreren miteinander verbundenen Stämmen. Flößerei ist ein weltweit und seit Jahrhunderten betriebenes Handwerk. Das immaterielle Kulturerbe „Flößerei“ ist ein Vorschlag von sechs europäischen Ländern: Deutschland, Lettland, Österreich, Polen, Spanien und Tschechien. In Deutschland betrieb man bis Mitte des 20. Jh. Flößerei auf den großen Flüssen, z. B. Rhein, Elbe oder Donau.
- Nr. 01866
- Immaterielles Kulturerbe seit: 2022
- UNESCO-Webseite: https://ich.unesco.org/en/RL/timber-rafting-01866
Praxis des Modernen Tanzes in Deutschland
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfanden mehrere Tanzlehrer*innen neue Formen des Tanzes: Der Ausdruckstanz stand im Gegensatz zum Klassischen Ballett.
Zu den Pionieren zählen u. a. Rudolf von Laban (1879–1958, Ascona, Zürich), der – analog zur Notenschrift – eine Tanzschrift (Labanotation) erfand (siehe links).
Zu seinen Schülern zählen Mary Wigman (1886–1973, Dresden, Leipzig), die durch Auftritte und Tanzschulen den Ausdruckstanz u. a. in den USA bekannt machte, sowie Kurt Jooss (1901–79), der in Essen die Folkwangschule für Musik, Tanz und Sprechen mitgründete.
Eine seiner Schülerinnen, Pina Bausch (1940–2009), entwickelte in Wuppertal den Modernen Tanz zum Modernen Tanztheater weiter. In der DDR wirkte u. a. Gret Palucca (1902–93), die in Dresden die Palucca Hochschule für Tanz gründete.
- Nr. 01858
- Immaterielles Kulturerbe seit: 2022
- UNESCO-Webseite: https://ich.unesco.org/en/RL/the-practice-of-modern-dance-in-germany-01858
Repräsentative Liste guter Praxisbeispiele
Bauhüttenwesen
Die Gemeinschaft der Dombauarbeiter*innen bezeichnet man als Dombauhütte (bzw. Bauhütte). Ihr Wissen geben sie seit Jahrhunderten weiter. Deutschland teilt diese Kulturform mit Frankreich, Norwegen, Österreich und der Schweiz.
- Nr. 01558
- Immaterielles Kulturerbe seit: 2020
- UNESCO-Webseite Bauhüttenwesen: https://ich.unesco.org/en/BSP/craft-techniques-and-customary-practices-of-cathedral-workshops-or-bauhutten-in-europe-know-how-transmission-development-of-knowledge-and-innovation-01558
Bundesweites Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes
Bislang sind in das Bundesweite Verzeichnis über 120 Kulturformen eingetragen. Es gibt drei Abstufungen:
- Kulturformen von lokaler Bedeutung, z. B. die Passionsspiele Oberammergau oder das Malchower Volksfest,
- Kulturformen von regionaler Bedeutung, z. B. die Pfälzerwaldhütten-Kultur (in Rheinland-Pfalz und im Saarland) oder das Niederdeutsche Theater,
- Kulturformen von bundesweiter Bedeutung, z. B. die deutsche Brotbackkultur oder Moderner Tanz.
Pfälzerwaldhütten-Kultur
Die rund 25.000 Mitglieder des Pfälzerwaldvereins betreiben ehrenamtlich rund 100 Pfälzerwaldhütten und kümmern sich um das 12.000 km lange Wegnetz im Pfälzerwald. Die Hütten haben meist eine Gastwirtschaft, manche bieten Übernachtung, einige sind lediglich Schutzhütten. Der überwiegende Teil der Hütten steht im Pfälzerwald; einige in Wäldern der Rheinebene in Rheinland-Pfalz. Webseite: http://www.pwv.de/
- Immaterielles Kulturerbe seit: 2021
- UNESCO-Webseite Pfälzerwaldhütten-Kultur: https://www.unesco.de/kultur-und-natur/immaterielles-kulturerbe/immaterielles-kulturerbe-deutschland/huettenkultur
Deutsche Brotbackkultur
Immaterielles Kulturerbe in Deutschland, das man verzehren kann, gibt es ebenfalls. Ein Beispiel ist die deutsche Brotbackkultur. Weltweit bietet Deutschland die größte Auswahl an Brotsorten, nämlich über 3.000 Sorten. Das Brotmuseum befindet sich in Ulm. Webseite: https://www.brotinstitut.de/brotkultur/museum-brot-und-kunst
- Immaterielles Kulturerbe seit: 2014
- UNESCO-Webseite Deutsche Brotbackkultur: http://www.unesco.de/kultur/immaterielles-kulturerbe/bundesweites-verzeichnis/eintrag/deutsche-brotkultur.html
Materielles und immaterielles Kulturerbe
Materielles und immaterielles Kulturerbe ergänzen einander. Z. B. ist der Kölner Dom ein (materielles) UNESCO-Weltkulturerbe. Erbaut haben ihn die Mitglieder der Kölner Dombauhütte, die ihr Wissen von Generation zu Generation weitergaben.
- Der Kölner Dom ist einerseits Ausdruck einer Idee („Lasst uns einen Dom bauen!“) und des Wissens („So baut man einen Dom, der nicht einstürzt.“).
- Andererseits kann der Kölner Dom auch Eindruck machen: Ein Besuch des Doms kann die Menschen auf neue Ideen bringen („Lasst uns den Dom erforschen!“) und Wissen vermitteln („So baute man im Mittelalter.“).
Das Foto zeigt den Kölner Dom im Jahr 1855. Vollendet wurde er erst 1888.
FAQ: Immaterielles Kulturerbe in Deutschland und der Welt
- Was ist ein immaterielles Kulturerbe? Das ist der Teil der Kultur, den man nicht sehen oder anfassen kann. Z. B. kann man Ideen oder Wissen weder sehen noch anfassen. Ideen und Wissen können aber ausgedrückt werden, z. B. durch Sprache, Musik oder Körperbewegungen (Tanz, Theater).
- Was ist der Unterschied zwischen dem „Bundesweiten Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes“ und der „Repräsentativen Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit“? Das Bundesweite Verzeichnis ist eine nationale Liste Deutschlands, die Repräsentative Liste ist eine internationale Liste der UNESCO. Ein Eintrag in der nationalen Liste ist Voraussetzung für einen Eintrag in die UNESCO-Liste.
- Wie gelangt etwas in das Bundesweite Verzeichnis? Schritt 1. Bürger*innen schlagen eine Ausdrucksform für die Nationale Liste vor (Link zum Formular). Schritt 2. Jedes Bundesland wählt bis zur vier Vorschläge aus und leitet sie an die Kultusministerkonferenz. Schritt 3. Ein Expertenkomitee prüft die Vorschläge und schlägt eine Auswahl vor. Schritt 4. Die Kultusministerkonferenz und der/die Bundesbeauftragte für Kultur bestätigen die Empfehlung.
- Wie gelangt ein Eintrag vom Bundesweiten Verzeichnis in die Repräsenative Liste? Schritt 1. Jeder Staat schlägt pro Jahr einen Eintrag aus der nationalen Liste vor. Schritt 2. Der „Zwischenstaatliche Ausschuss für die Erhaltung des immateriellen Kulturerbes“ entscheidet über die Aufnahme in die Repräsentative Liste.
- Wie viele Einträge umfasst das Bundesweite Verzeichnis? 113 Einträge (Stand 2021; Bundesweites Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes: pdf-Datei ).
- Wie viele und welche Einträge sind auf der Vorschlagsliste für Deutschland? Die: „Deutsche Theater- und Orchesterlandschaft“.
- Wie lang ist die „Repräsentative Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit“? Auf der Liste sind 678 Ausdrucksformen aufgeführt (Stand 2022). Liste: https://ich.unesco.org/en/lists
- Wie viele Kulturformen dieser Repräsentativen Liste gibt es in Deutschland? Sechs.
- Welches ist das älteste immaterielle Kulturerbe in Deutschland? Die Falknerei. Zwischen 200 und 400 n. Chr. lernten Germanen durch die (iranischen) Sarmaten die Falkenjagd kennen.
- Kann der Status als immaterielles Kulturerbe aberkannt werden? Ja. Das ist bislang einmal vorgekommen: 2019 strich der Zwischenstaatliche Ausschuss den „Straßenkarneval von Aalst“ in Belgien von der Repräsentativen Liste, nachdem die Stadt darum gebeten hatte. Die UNESCO begründete die Aberkennung mit antisemitischen und rassistischen Darstellungen (Link zur UNESCO).
- Gibt es noch mehr UNESCO-Listen? Ja: eine Rote Liste („Liste des dringend erhaltungsbedürftigen Immateriellen Kulturerbes“) und das UNESCO-Register Guter Praxisbeispiele.
Fragen zum Besuch des immateriellen Kulturerbes in Deutschland
Wo kann ich das immaterielle Kulturerbe besuchen? Mit etwas Glück in Ihrer Wohnung – falls Sie in einer Genossenschaftswohnung leben. Denn eine solche Wohnung ist Ausdrucksform der Genossenschaftsidee, die zum immateriellen Kulturerbe zählt. Falls Sie bei der Einkaufsgenossenschaft EDEKA die taz kaufen, halten Sie eine weitere Ausdrucksform der Genossenschaftsidee in Händen. Und die Orgel in Ihrer Kirche ist Ausdruck des immateriellen Kulturerbes „Orgelbau und Orgelmusik„.
Gibt es Museen, Werkstätten oder Informationszentren zum immateriellen Kulturerbe? Ja, hier ist eine Auswahl*:
- Genossenschaftsidee:
- Falknerei:
- Falkenhof Rosenburg (Altmühltal)
- Jagdschloss Kranichstein (Darmstadt)
- Falknerei Schloss Lauenstein (Erzgebirge)
- Orgelbau und Orgelmusik:
- Silbermann-Museum Frauenstein
- Konzerte an der Silbermann-Orgel im Freiberger Dom
- Bachhaus Eisenach
- Johann-Sebastian-Bach-Museum (Leipzig)
- Blaudruck:
* Die Auswahl besagt nichts über die Qualität der Arbeit der Träger*innen des immateriellen Kulturerbes oder des Museums.